11 Jahre seit dem Völkermord an den Êzîden – Was ist geschehen?

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In der Nacht vom 2. auf den 3. August 2014 startete der sogenannte IS einen brutalen Angriff auf das ezidische Volk in Shingal (Sinjar), Irak. Es folgte eine systematisch geplante Kampagne aus Massenmord, Vergewaltigungen, Verschleppungen, Versklavung und Zwangskonversion – einzig aus dem Grund, dass die Êzîden Êzîden sind, mit ihrer jahrtausendealten Religion, dem Sharfadin-Glauben. Damit begann der Völkermord an den Êzîden – ein tief schmerzhaftes Kapitel in der Geschichte des ezidischen Volkes, das bis heute fortwirkt.

Der Genozid zerstörte Familien, Städte und Dörfer. Tausende ezidische Männer und ältere Menschen wurden ermordet. Frauen und Mädchen erlitten grausamste sexualisierte Gewalt, wurden verkauft und weiterverkauft. Tausende Kinder wurden zwangsrekrutiert und indoktriniert. Über 300.000 Êzîden wurden vertrieben – viele leben bis heute in Lagern in Dohuk und Ninawa. Über 2.600 Frauen und Kinder gelten weiterhin als vermisst.

Bis heute ist dieser Genozid nicht vorbei. Die Wunden sind offen, die Folgen sichtbar – täglich kommen neue Berichte, Statistiken und Entdeckungen hinzu. Was geschehen ist, bleibt unübersehbar.

Was ist nicht geschehen?

Trotz einzelner Fortschritte bleiben die tiefsten Wunden offen. Wesentliche Maßnahmen fehlen bis heute:

  • Mangel an Gerechtigkeit: Die Mehrheit der IS-Täter wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Bis heute hat der Irak keine Verfahren wegen Völkermord in seinen nationalen Gerichten durchgeführt oder spezielle Tribunale eingerichtet.

  • Unsicherheit in Shingal: Die Region bleibt instabil, militarisiert und politisch zersplittert. Rivalisierende bewaffnete Gruppen, fehlende einheitliche Verwaltung und ungelöste Machtkonflikte verhindern die sichere Rückkehr der Êzîden.

  • Unschutz der Massengräber: Über 90 Massengräber wurden in der Region Shingal dokumentiert. Viele sind weder exhumiert noch gesichert – für Angehörige bedeutet das anhaltende Ungewissheit und verhindert forensische Aufarbeitung.

  • Vermisste Personen: Tausende ezidische Frauen und Kinder sind weiterhin verschwunden. Es fehlt ein internationaler Mechanismus zur Suche und Rückführung.

  • Verzögerte Entschädigung: Die versprochene Unterstützung im Rahmen des sogenannten Gesetzes für weibliche Überlebende (YSL) und anderer Programme erreicht kaum Betroffene. Bürokratische Hürden, Korruption und politischer Widerstand behindern den Prozess.

Zeit zu handeln – Zeit, zu fordern

Erinnerung ist wichtig – aber das ezidische Volk muss auch fordern, dass der irakische Staat und die internationale Gemeinschaft konkrete und machbare Maßnahmen ergreifen. Nach elf Jahren des Überlebens, der Trauer und der Stärke haben Êzîden legitime Erwartungen.

1. Offizielle Anerkennung des Völkermords durch den Irak – und Ende der Blockade durch kurdische Kräfte

Der Irak muss den Genozid vollumfänglich anerkennen – moralisch wie juristisch. Doch dieser Prozess wird systematisch behindert – ironischerweise von jenen kurdischen Akteuren, die Êzîden einerseits als „Kurden“ beanspruchen, aber zugleich ihre Anerkennung und Selbstbestimmung aktiv unterdrücken. Diese Doppelmoral bleibt dem ezidischen Volk nicht verborgen. Kurdische Akteure spielen zudem eine direkte Rolle bei der Zerstückelung der politischen und militärischen Kontrolle in Shingal – auf Kosten der Rückkehr der Êzîden. Das muss enden – oder es wird historische Konsequenzen haben.


2. Gerechtigkeit und Strafverfolgung

Der Irak muss IS-Täter wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen. Wenn er dazu nicht willens oder fähig ist, müssen internationale Mechanismen aktiviert werden. Gerechtigkeit, die verzögert wird, ist verweigerte Gerechtigkeit.


3. Sichere Rückkehr und Garantien

Êzîden müssen in Würde, Sicherheit und Selbstbestimmung nach Hause zurückkehren können. Shingal muss entmilitarisiert, zivile Strukturen wiederhergestellt und Infrastruktur aufgebaut werden.


4. Schutz religiöser und ethnischer Minderheiten

Die Êzîden sind ein uraltes Volk mit eigener Religion. Ihre Existenz zu schützen, ist eine völkerrechtliche Pflicht.


5. Reparationen und Anerkennung des Leids

Entschädigungen dürfen nicht weiter verschleppt werden. Auch Kinder aus Vergewaltigungen, ehemalige Kindersoldaten und männliche Überlebende brauchen Anerkennung.


6. Erhalt ezidischer Kultur und Religion (Sharfadin)

Ein Genozid zielt nicht nur auf Menschen, sondern auf Identität. Die ezidische Sprache, Religion, Kultur und die heiligen Stätten in Shingal müssen bewahrt und gestärkt werden.


7. Internationale Kontrolle und Druck

Die internationale Gemeinschaft muss aufhören, Êzîden nur als Symbol zu betrachten – und anfangen, ihre Rechte zu verteidigen. Das bedeutet: Gelder, Suchmechanismen, politischer Druck auf irakische und kurdische Akteure, die Fortschritte blockieren.


An jede ezidische Familie, die trauert, hofft oder mit den Narben vom 3. August lebt – wir stehen an eurer Seite.

Elf Jahre sind vergangen. Der Schmerz bleibt. Was genommen wurde, ist unwiederbringlich. Was verweigert wird – Gerechtigkeit, Wahrheit, Rückkehr – darf nicht länger hinausgezögert werden.

Bei Ezidi Times werden wir weitermachen: die Wahrheit erzählen, die richtigen Fragen stellen, und Stimme, Augen und Ohren des ezidischen Volkes bleiben – so lange es nötig ist.

Für die Tränen eines Kindes, das seinen Vater fortgeführt sah.
Für die Tränen eines Kindes, das den Schrecken über seine Mutter erlebte.
Für jedes ezidische Kind, dem die Kindheit geraubt wurde.
Für jedes Mädchen, das der dunkelsten Grausamkeit der Menschheit gegenüberstand.
Für jede Mutter, die mit jedem entführten Kind ein Stück von sich verlor.
Für jeden Vater, der die Last der Ohnmacht trug.

Wir erinnern uns an euch. Wir tragen eure Erinnerung in uns – und wir werden eure Geschichte so lange erzählen, bis die Welt nicht mehr wegsehen kann.


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