Neue Entwicklungen im Sorgerechtsstreit um das Ezidi-Kind zwischen der leiblichen Familie und der Witwe eines ISIS-Mitglieds
Vor über einem Jahr berichtete Ezidi Times, dass die türkischen Behörden ein Mitglied des ISIS, Sabah Ali Oruç, unter dem Vorwurf des „internationalen Menschenhandels“ festgenommen haben, nachdem ein Ezidi-Mädchen aus dem Irak entführt, über das Dark Web gehandelt und in die Türkei geschmuggelt wurde. Das Kind war von ISIS im Irak für 500 Dollar verkauft worden und wurde 2018 mit einem gefälschten Pass in die Türkei gebracht. Nach ihrer Rettung im Februar 2021 wurde das Kind in einem staatlichen Pflegeheim in Ankara unter den Schutz des Ministeriums für Familie und soziale Angelegenheiten gestellt. Trotz dieser Schutzmaßnahme wurde in einer umstrittenen rechtlichen Entwicklung das Sorgerecht für dasselbe Kind später an ein Mitglied der ISIS-Familie zurückgegeben – an Oruç’ Ehefrau, Saibe Adnan.
Türkische Medien berichten, dass eine Ezidi-Frau aus dem Irak sich als die Mutter des Kindes gemeldet hat und den türkischen Behörden ihre DNA-Probe zur Verfügung gestellt hat, die mit der DNA des Ezidi-Mädchens verglichen werden soll. Eine Gerichtsverhandlung wird für Januar 2025 erwartet, bei der die biologische Verbindung zwischen dem Ezidi-Kind und der Ezidi-Frau aus dem Irak festgestellt werden soll.
Wie das Ezidi-Kind in die Türkei gebracht wurde
Die Entführung des Kindes erfolgte im Rahmen einer größeren ISIS-Operation, die auf die Ezidi-Bevölkerung im Irak abzielte, bei der viele Frauen und Kinder entführt, verkauft und versklavt wurden. Das Kind wurde zunächst über das Dark Web gehandelt und online zum Verkauf angeboten. Die türkische Polizei, in Zusammenarbeit mit Geheimdiensten, führte im Februar 2021 eine Operation in Ankara durch und rettete das (zu der Zeit 6-7 Jahre alte) Mädchen aus einem ISIS-Versteck.
Während der Operation wurden Oruç sowie andere ISIS-Mitglieder, darunter Anas V., Nasır H. R. und Sabbah Ali Oruç, festgenommen. Oruç gestand später, das Kind in die Türkei gebracht zu haben, wo es an andere ISIS-Mitglieder verkauft wurde. Nach seiner Festnahme wurde Oruç wegen „internationalen Menschenhandels“ angeklagt und in das Sincan F-Typ-Gefängnis gebracht. Zwei weitere mit ihm festgenommene Personen wurden unter gerichtlicher Kontrolle freigelassen.
Rechtliche Verfahren in der Türkei
Das Kind verblieb unter staatlicher Obhut in einem Pflegeheim und stand unter dem Schutz des türkischen Ministeriums für Familie und soziale Angelegenheiten. Im Jahr 2022 jedoch stellte die Familie von Oruç einen Sorgerechtsanspruch, um das Sorgerecht für das Kind zurückzuerlangen. Ihr Argument, das vor dem 19. Familiengericht in Ankara vorgebracht wurde, war, dass das Kind Muslimin sei, in Irak adoptiert worden sei und aufgrund eines „Übersetzungsfehlers“ in staatliche Obhut genommen wurde, als türkische Behörden ihr Zuhause durchsucht hatten. Die Familienmitglieder behaupteten, dass sie das Recht auf das Sorgerecht hätten, da sie die rechtmäßigen Vormünder des Kindes seien.
Das Gericht wies diesen Anspruch jedoch ab. Es entschied, dass die beteiligten Personen Mitglieder des ISIS seien und dass das Kind als Gefangene in die Türkei gebracht wurde, nicht als adoptiertes oder muslimisches Kind. Das Gericht betonte auch, dass das Kind Ezidi und nicht Muslim sei und von ISIS als „Kriegsbeute“ genommen worden sei. Die Richter lehnten den Sorgerechtsantrag ab und bestätigten die staatliche Obhut des Kindes.
Kontroverser Beschluss der türkischen Behörden sorgt für Empörung
Trotz dieses Rückschlags verfolgte Oruç’ Familie einen anderen Weg. Im März 2023 reichten sie einen separaten Sorgerechtsantrag beim 8. Zivilgericht in Ankara ein. Diesmal entschied das Gericht zugunsten von Saibe Adnan, Oruç’ Ehefrau, und gewährte ihr das gesetzliche Sorgerecht für das Kind. Saibe Adnan ist die Witwe eines ISIS-Gouverneurs aus dem Irak, und der Status ihres Mannes als ISIS-Führer erschwert die ethischen und rechtlichen Fragen rund um den Fall.
Die Entscheidung stieß auf Empörung, insbesondere bei Ezidis und einer Familie im Irak, die behauptet, die leiblichen Verwandten des Kindes zu sein. Diese Familie hat den türkischen Behörden DNA-Proben zur Verfügung gestellt, die belegen sollen, dass sie die rechtmäßigen leiblichen Verwandten des Kindes sind. Eine Gerichtsverhandlung ist für Januar 2025 angesetzt, bei der ein DNA-Vergleich durchgeführt werden soll, um die biologische Verbindung zwischen dem Kind und der irakischen Frau, die behauptet, ihre Mutter zu sein, festzustellen.
Der Fall hat in der Türkei eine erhebliche Debatte ausgelöst, wobei Menschenrechtsgruppen und Rechtsexperten die Handhabung des Falls durch die Justiz in Frage stellen. Ein zentrales Thema ist das Fehlen eines rechtlichen Vertreters für das Kind, der gemäß den gesetzlichen Bestimmungen während des Sorgerechtsverfahrens von der türkischen Anwaltskammer bestellt werden muss. Die Art und Weise, wie die türkischen Behörden den Fall behandelt haben – insbesondere die inkonsistenten Entscheidungen von Gerichten, Strafverfolgungsbehörden und dem Ministerium für Familie und soziale Angelegenheiten – hat zu Kritik geführt, dass das Wohl des Kindes und seine rechtlichen Ansprüche vernachlässigt wurden.
Derzeit dauert der Rechtsstreit an, und das Schicksal des Kindes bleibt ungewiss. Die laufenden Ermittlungen, DNA-Tests und die Gerichtsverhandlung im Jahr 2025 werden letztlich die biologische Identität des Kindes klären und entscheiden, wer das Recht hat, sich um es zu kümmern. Der Fall wirft größere Fragen zur Behandlung von Ezidi-Überlebenden des ISIS auf, insbesondere in Bezug auf Sorgerechtsstreitigkeiten und die komplexe Schnittstelle von internationalem Recht, Menschenhandel und den Rechten entführter Kinder.